In einem meiner Netzwerke, dem Texttreff, gibt es eine schöne Tradition: Rund um den Jahreswechsel beschenken wir uns gegenseitig mit Blogbeiträgen. Das Los hat mir meine Kollegin Maike Frie zugeteilt. Welch ein Glück: Maike ist ausgewiesene Norwegen-Expertin und verrät uns, was es in dem skandinavischen Land abseits der Pfade so zu entdecken gibt. Danke, liebe Maike!
Unser letzter Sommerurlaub in Norwegen begann in Bergen und endete in Kristiansand – zwei bekannte Städte mit größeren Häfen, die Touristen von und nach Dänemark verschiffen. Auch mit der Flåmbahn sind wir gefahren – das ist eine der bekanntesten Eisenbahnstrecken der Welt.
Ansonsten waren wir in Helle, auf Kinn und haben schöne Wanderungen zum Beispiel auf den Kletten unternommen. Das sagt Ihnen nichts? Macht nichts, wir sind auch eher zufällig auf diese Orte gestoßen, als wir unsere Reise geplant haben.
Private Kirchenführung auf Kinn
Einen der schönsten Tage in Norwegen haben wir auf Kinn verbracht. Die Kirche dieser Insel steht tatsächlich in manchen Reiseführern, weil sie die erste Steinkirche Norwegens ist (seit rund 1100 genutzt) und im Mittelalter zentraler Anlaufpunkt der Region war. Noch heute gibt es das jährliche Kinnaspelet, ein Festival mit Musik, Schauspiel und Gesang, zu dem viele ehemalige Bewohner*innen auf die Insel zurückkehren, um mitzuwirken.
Ein öffentlicher Geheimtipp kann die Kirche jedoch nicht sein, denn wir waren an diesem Tag die einzigen ausländischen Touristen, die sich im Hafen von Florø eingefunden haben, um überzusetzen. Außer uns war nur noch ein norwegisches Ehepaar auf Urlaubsreise, alle anderen wollten nach Hause oder jemanden besuchen. Das Schiff steuert eine Reihe von kleinen Inseln an und fährt nur ein paar Mal am Tag – zum Beispiel um Schüler*innen aufs Festland oder zurück zu bringen. Wir mussten dem Kapitän sagen, dass er auf dem Rückweg seiner Runde Kinn wieder anlaufen soll, weil wir dorthin nur einen Tagesausflug unternehmen wollten; ansonsten hätte er an der Insel gar kein zweites Mal gehalten.
Feste Einwohner*innen gibt es dort derzeit nur sechs. Außerdem ein paar Hütten, die man mieten kann. Die engagierte Küsterin hat extra für das norwegische Ehepaar und mich eine kostenlose Führung durch ihre Kirche angeboten. Ihre Begeisterung für die Geschichte des Baus und der ganzen Insel war ansteckend – sodass wir anschließend direkt bei ihr noch auf Waffeln und Kaffee eingekehrt sind. Übrigens die typische norwegische Zwischendurch-Verpflegung. Gerne auch im Garten eines Wohnhauses an einer Passstraße mit ein paar Klappstühlen eingerichtet. Und selbstverständlich mit Kartenlesegerät fürs bargeldlose Zahlen …
Touristenmassen am Geirangerfjord
Die Flåmbahn führt von Flåm am Aurlandsfjord, der auch von Kreuzfahrtschiffen angelaufen wird, nach Myrdal. Dort waren wir vor 20 Jahren schon, als alles noch ein wenig beschaulicher war. Dieses Mal war es eine reine Massenabfertigung. Im riesigen Souvenirladen verstand die Frau an der Kasse zunächst gar nicht, was ich von ihr wollte, als ich sie fragte, ob sie Briefmarken zu den Postkarten habe, bis ihr dämmerte, dass ich Norwegisch mit ihr spreche. So etwas kommt dort wohl gar nicht mehr vor – sie selbst war auf jeden Fall eine Saisonkraft von irgendwo und sprach ausschließlich Englisch.
Die Fahrt selbst ist und bleibt beeindruckend: mehr als 850 Höhenmeter auf der rund 20 km langen Strecke, die in knapp einer Stunde überwunden werden, spektakuläre Ausblicke ins Tal hinunter und die Berge hinauf – wenn man nicht gerade in einem der vielen Tunnel steckt – sowie die obligatorischen Wasserfälle. Uns persönlich wurde das allerdings durch die auf Hin- und Rückweg identische, unpersönliche Bandansage (auf Norwegisch, Englisch und Deutsch) ein wenig vermiest.
Der – unserer Meinung nach negative – Höhepunkt war jedoch das Schauspiel, bei dem zwei junge Frauen (übrigens polnische Saisonkräfte mit blonden Perücken) eine Huldra gaben (Waldfee, die Männer vom Weg abbringt), die am Kjosfoss zu mystischer Musik auf, neben, unter und hinter Steinen auf- und abtaucht. Als wir das Motiv zuvor auf Postkarten gesehen hatten, haben wir es für einen schlechten Scherz gehalten; aber tatsächlich war es so, dass an dieser Station alle gebeten wurden, ein paar Minuten aus dem Zug auszusteigen, um die Dame(n) im roten Kleid zu fotografieren.
Industriemuseum statt Trolltunga
Weiter ging es in die Industriestadt Odda, die in den letzten Jahren einen imposanten Anstieg der Besucherzahlen verzeichnen konnte. Das liegt nicht etwa am Wasserkraftwerk-Museum, sondern daran, dass Odda der Ausgangspunkt für Wanderungen zur Trolltunga ist. Seit sich Reisefotos rasant über Social Media-Kanäle verbreiten, ist diese Felsformation, die an die herausgestreckte Zunge eines Trolls erinnert, kein Geheimtipp mehr, sondern Anlaufstelle von Massen, die jeder für sich gerne Individualtouristen wären (Anstieg von 1.000 auf 100.000 Besucher jährlich innerhalb von fünf Jahren).
Auch den Norweger*innen wird das inzwischen zu viel. Es gibt Überlegungen, eine Steuer für solche Highlight-Touristenattraktionen einzuführen, um die Besucherzahlen zu kanalisieren. Insbesondere auf der Trolltunga nerven die Rettungseinsätze – tödliche Unfälle gab es zum Glück in den letzten Jahren nur einen; allerdings müssen regelmäßig Wanderer vom Berg runtergeholt werden, die das Wetter, die Strecke oder ihren Ausrüstungsbedarf unterschätzt haben.
Ich habe kein Foto der Trolltunga. Einerseits wäre der 28 km lange Weg mit Kindern nicht zu schaffen gewesen, denn in Norwegen sind Wanderungen häufig ein ganz anderes Kaliber als in Deutschland, andererseits hat es die Tage, die wir in Odda verbracht haben, durchgeregnet, sodass die Parkplätze gesperrt waren, von denen aus man hätte starten können.
Dafür waren wir im Wasserkraftwerk-Museum. Dort haben wir nette Stunden mit einer mehrsprachigen Führerin verbracht, die uns allein die Anlage gezeigt, mit uns über Norwegen geplaudert und im Museums-Café gleich noch Waffeln für uns gebacken hat. Wie der Nebel sich vom Fjord aus die Berghänge hochgezogen und an mystische Trollgeschichten hat denken lassen, das ist ein fantastischer Anblick.
Ausblick vom Kletten – Hausberge in Norwegen
Gewandert sind wir in Norwegen selbstverständlich auch. Allerdings eher zu abgelegenen Zielen, so zum Beispiel auf den Kletten, den Hausberg unseres Ferienortes. Um dorthin zu gelangen, muss man erst einmal den Weg finden, der – vom Reiseführer etwas vollmundig angekündigt – auf einem Wanderparkplatz beginnen soll. Dieser entpuppt sich als Waldweg, auf dem es niemanden stört, wenn dort am Rand ein Auto steht. Die ersten Markierungen finden sich dann im Wald – wenn man den richtigen Zugang über einen Hof durch den freundlichen Hinweis des Landwirts gefunden hat. Begegnungen mit freilaufenden Hunden sollte man bei dieser Art Ausflug nicht scheuen …
Oben angekommen, bot sich uns ein herrlicher Ausblick über Felsen, Fjord und Wälder. Ganz in Ruhe konnten wir ihn nach allen Seiten genießen, sitzen und fotografieren, so lange und wo wir wollten, picknicken und uns ins obligatorische Gipfelbuch eintragen. Auch wenn hier kein Troll die Zunge ins Nichts streckt; für uns war es spektakulär genug, ein Ziel erklommen zu haben, zu dem den gesamten Sommer über nur eine Handvoll anderer Leute gewandert sind (sich ins Gipfelbuch eingetragen haben).
Norwegen – mehr als Osloer Oper und Nidarosdom
Solche Begegnungen und Entdeckungen sind es, die uns von diesem Norwegenurlaub im Gedächtnis bleiben werden, und nicht die Punkte auf einer Sehenswürdigkeiten-Liste, die wir abhaken konnten.
Deshalb unser Fazit: Norwegen ist überall schön, überall gibt es Wasser und Wald und Berge, also ist es in gewissem Sinne überall gleich und natürlich dennoch überall anders. Ganz egal, wo Sie hinfahren, das Selbst-Entdecken ist das Tolle, Internet-Geheimtipps oder angepriesene Reiseführer-Sehenswürdigkeiten kann man getrost mal links liegen lassen. Also lieber abseits der Pfade suchen und fündig werden!
Maike Frie lebt und arbeitet in Münster. Sie lektoriert, übersetzt aus dem Norwegischen, schreibt und gibt Schreibwerkstätten. Mehr unter www.skriving.de
So ein schöner Bericht mit tollen Fotos, da bekomme ich gleich Lust auf eine Reise nach Norwegen!
Ich finde auch: Die Fotos sind der Hammer (der Text ist natürlich auch toll)! Ich habe Norwegen auch gleich mal auf meine To-Travel-Liste gesetzt!
Ich liebe Norwegens Fjorde! Das Land selbst möchte ich wieder einmal besuchen. Wenn es dort nicht so wenig Licht im Winter gäbe, würde ich dort wohnen wollen.
Ich gebe zu, ich war das eine Mal auch mit dem Schiff unterwegs. Doch ich bin vollkommen der gleichen Meinung, dass dieser Massentourismus nicht gut ist. Ich werde daran auch nicht mehr teilnehmen. Mir tun all die Menschen leid, die an so tollen Orten leben, und dann von den Touristenmassen überfallen werden.
Hallo, Pam, ja, overtourism ist ein echtes Problem an so vielen Orten. Das ist einer der vielen Gründe, aus denen wir alle wohl umdenken müssen.
Danke für deinen Kommentar.
Viele Grüße
Cordula