Der Atombunker unter dem Hamburger Hauptbahnhof sollte einmal über 2700 Menschen Schutz vor tödlicher Strahlung bieten. Heute schickt er Besucher auf eine ebenso gruselige wie spannende Zeitreise in den Kalten Krieg!
Ein Mitarbeiter des Vereins Hamburger Unterwelten weist mir einen Platz in einer Sechsersitzreihe zu: „Sie setzen sich bitte hierhin!“ Ich nehme auf dem harten, schmalen Sitz Platz und lehne meinen Kopf an das Schaumstoffpolster darüber. Neben mir setzen sich auf Anweisung weitere Besucher hin, eng an eng. „Und jetzt“, beginnt unser Guide, „stellen Sie sich vor, dass dies für die nächsten vierzehn Tage Ihr Zuhause ist. Sie werden sechzehn Stunden am Tag sitzen und im Drei-Schichten-System acht Stunden auf Pritschen liegen.“
Ein Bunker aus der Zeit des Kalten Kriegs
Ich bin im Tiefbunker unter dem Hamburger Hauptbahnhof, dessen tiefste Ebene bis auf 11,8 Meter unter die Erde reicht. In Hamburg sind noch zahlreiche Bunker und Schutzräume aus dem Zweiten Weltkrieg erhalten. Sie waren dazu gedacht, während der Angriffe der Alliierten Schutz zu bieten. Waren die Bomber abgezogen, kehrten die Menschen in ihre Häuser und Wohnungen oder das, was davon übrig geblieben war, zurück. Dieser Tiefbunker hingegen ist anders. Zwar stammt auch er aus dem Zweiten Weltkrieg, er wurde aber von 1965 bis 1969, in Zeiten des Kalten Kriegs, umgebaut. Während der Kubakrise war die Menschheit so nah an den Rand ihrer Vernichtung gerückt wie nie zuvor. Überall suchten die Regierungen nach Möglichkeiten, die Bevölkerung im Falle eines Atomkriegs zu retten. Über zweitausend Menschen sollten nach dem Umbau in diesem Bauwerk nicht nur Schutz vor den Bomben, sondern auch vor dem radioaktiven Fallout nach einem Angriff mit Atomwaffen finden. Und das bedeutete: Die Menschen hätten hier ausharren sollen, bis die atomare Strahlung weit genug abgeklungen und ein Transport in unverstrahlte Gebiete möglich gewesen wäre.
Kein Kontakt zur Außenwelt, keine Privatsphäre, eingeschränkte Hygiene
Vierzehn Tage lang, so rechnete man, würden die Menschen in ihrem unterirdischen Versteck bleiben müssen. Vierzehn Tage lang eingezwängt mit wildfremden Menschen, mit nur eingeschränkter Hygiene und ohne Beschäftigung. Ohne Kontakt zur Außenwelt, zu Familienangehörigen und zu Freunden. Ohne Privatsphäre und ohne die Möglichkeit, den Bunker wieder zu verlassen. Ohne zu wissen, was draußen vor sich geht.
Die Ausstattung ist karg. Holzsitze, metallene Ablagen und ein paar Kleiderhaken – mehr Platz war für die Geretteten im Bunker nicht vorgesehen. Alles ist äußerst einfach, alles ist auf das pure Überleben ausgerichtet: Jeder bekam eine Suppenschüssel, einen Löffel. Etwas Seife und ein Grubentuch als Handtuch. Die Toiletten haben keinen Deckel, keine Brille, keine Tür, nur einen Vorhang.
Platz für 2702 Menschen – mehr nicht!
Zweitausendsiebenhundertzwei Menschen konnten hier unten überleben, mehr nicht. Zweitausendsiebenhundertzwei war die maximale Anzahl an Personen, für die Luft, Wasser und Lebensmittelvorräte ausreichen würden. In den Bunker führen eine schmale, steile Treppe und eine Schleuse, die immer nur einen Flüchtenden einlässt. Mich fröstelt es, nicht nur wegen der dauerhaft kühlen 12 °C, die im Bunker herrschen – wäre er voll besetzt, wäre eher die von den Menschen ausgehende Wärme ein Problem. Die Szenen, die sich vor der Tür abgespielt hätten, wenn diese sich endgültig schließt, möchte ich mir gar nicht ausmalen .
Fast anderthalb Stunden dauert die Führung durch den Atombunker, dieses ebenso beklemmende wie faszinierende Bauwerk, das mitten in der Innenstadt liegt und das selbst viele Hamburger nicht kennen. Als ich nach dieser Zeitreise wieder die vierunddreißig Stufen zum unscheinbaren Einstieg neben dem Hauptbahnhof hochklettere, bin ich sehr froh, dass an diesem Tag dort oben nichts weiter strahlt als die Sonne.
Es ist dem Verein Hamburger Unterwelten zu verdanken, dass der Tiefbunker unter dem Hauptbahnhof heute für Besucher offensteht und beim Rundgang verschiedene technische Einrichtungen nicht nur besichtigt werden können („Bitte nichts anfassen, das ist alles noch voll funktionsfähig!“, warnt uns unser Guide), sondern dass sogar die Schleusenanlage noch vorgeführt werden kann. Der Verein veranstaltet regelmäßig Führungen durch den Bunker, eine verbindliche Anmeldung (mindestens einen Monat im Voraus) ist unbedingt notwendig. (www.hamburgerunterwelten.de)
Dieser Text stammt aus meinem Reiseführer „Hamburg abseits der Pfade“, erschienen im Braumüller Verlag und erhältlich in jeder Buchhandlung.
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Liebe Cordula,
wie eindrücklich! Davon wusste ich auch nichts, obwohl ich einige Jahre in Hamburg gelebt habe. Gerade habe ich eine Seite gefunden, die über Bunker schreibt (http://7grad.org/Exkursionen/Muenster/Tiefbunker/Aegidiimarkt/aegidiimarkt.html), weil ich in Erinnerung hatte, dass unter einem Parkhaus mitten in Münsters Innenstadt auch ein Tiefbunker steckt – und so ist es. Wohl für ähnlich viele Leute, für mehrere Wochen, und gegen biologische und chemische Kampfstoffe.
Ich freue mich auf weitere Berichte von abseits der Pfade!
Viele Grüße
Maike
Oh, das ist aber auch sehr spannend! Ist der frei zugänglich? Wenn ich das nächste Mal in Münster bin, muss ich mir den unbedingt mal ansehen. Danke für den Tipp, liebe Maike.
Gruß Cordula